Wie es dazu kam, dass Bernds Lippen willentlich auseinandergenommen und mit Parmesan bestreut wurden
Ein Traum der ihn schwindelte und es ihm so schummrig wurde, dass er nach 26 Stunden Schlaf wieder das Licht der Welt erblickte, blieb so lange mit ihm, dass er erst nach 43 Stunden wieder zum Schlaf fand. Er rutschte dann in das Schwarze Nichts hinein, dass ihn wie einen alten Freund begrüßte, doch da er nicht bei Besinnung war bekam er nur ein zittriges „Hallo“ heraus und war im nächsten Moment schon so panisch, dass er seinen Zustand am liebsten zerkratzt und zerstört hätte. Doch das ging nicht und vielleicht fing bald auch wieder ein Traum an, denn am nächsten Mittag, als er aufwachte, hatte er nie zuvor dagewesene Lust auf Maultaschen. Gekochte Maultaschen, die er so auseinandernehmen wollte, dass er zu seiner Linken die Fleischfüllung auf einem Haufen hatte und zu seiner Rechten die Nudelhaut. Dann würde er Butter und Salz über das Fleisch verteilen und Parmesan über den Nudeln. Was als nächstes kam wusste er noch nicht und das war ihm auch ziemlich egal. Im Geschäft blieb er zehnmal vor Verwunderung stehen, denn die Leute grüßten ihn mit „Bonjour“, „Bongiorno“, „01001000 01000101 01001100 01001100 01001111”, „Howdy“, „Cześć“, „Olá“, „Bună ziua“ und ein paar anderen Wörtern, die er gar nicht verstand. Die Maultaschen-Abteilung sah heute so mickrig aus und seine Lust verschwand als er sah, dass jemand eine halb ausgelaufene Packung Kondensmilch vor die Schwäbischen geklatscht hatte. Was eine Scheiße. Schnell verließ er das Geschäft und schwor sich nie wiederzukommen. Vielleicht war es das Beste wieder nachhause zu gehen und sich hinzulegen. Er musste Fuß vor Fuß setzen und die Straßen schleiften sich ein und aus, Schilder schienen sich zu wiederholen und das taten sie auch. Und am liebsten hätte er einfach aufgehört und sich auf die Straße gelegt, wie der dort drüben. Das Auge wanderte und schon bald hielt er ein Gorgonzola-Eis in der Hand, schleckte daran und hatte ganz vergessen wieso schlafen gehen eigentlich die beste Idee wäre. In einer Wohnung weit über ihm hörte ein in die Jahre gekommener Juwelendieb Rio Reiser und zählte dabei die Scheine – er hatte soeben einen vergoldeten Smaradgring verkauft (oder war das ein Malachit? fragte er sich jetzt – es war ziemlich egal, der Deal war vorbei und Verstehen musste er das Ganze sicher nicht) – Geld hatte er bekommen, genug, um sich etwas Schönes zu leisten. Er gönnte sich so selten etwas. Vielleicht einen neuen Mund, das könnte gut kommen – ihm und dann auch zur Freude seiner Mitmenschen. Erst gestern hatte er im Fernseher einen wunderschönen grün strahlenden Mann mit wohlgeformten Lippen, die ein zartes, einladendes Lächeln trugen, gesehen, und jetzt dachte er, das könnte gut kommen. Niemand widersprach einer Augenweide. So in Gedanken vernahm er plötzlich aus den herumschwabernden Worten, die aus der unmittelbaren Umgebung und von weiter weg stetig zu ihm wollten, ganz eindringlich gedacht die Fetzen „Maul“, „Füllung“, „glänzend“, „gleichmäßig verteilen“, „Haut“ und weiter brauchte er wirklich nicht zu lauschen, denn was hier passierte war so klar wie Kloßbrühe. Da hatte ihm von ganz weit oben jemand dieses Geschenk gemacht: die Fähigkeit Gedanken aufzuschnappen, wann immer er wollte, denn sie kamen auch zu ihm wenn er nicht wollte. Und jetzt sah er auch den Grund: sein Wunsch, der nun zum Lebenstraum geworden war, konnte er so erfüllen: der Mann, der ihm den Mund verschönern würde war in nächster Nähe und er sprang vor Freude los.
09.04.2024